SOZIALDIALOG
INTERVIEWS
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Jenny Kallenbrunnen
Während der Krise sehen viele junge Griechen im eigenen Land keine berufliche Perspektive. Von einem Leben in Deutschland erhoffen sie sich mehr finanzielle Sicherheit. Agenturen haben daraus ein Geschäft gemacht.
Ioanna Sarri ist eine junge Griechin, 30 Jahre alt, ausgebildet als Erzieherin, mit abgeschlossenem Germanistik-Studium und Sprachdiplom. Als Kindergärtnerin ist sie eigentlich überqualifiziert. In Athen ist sie dennoch arbeitslos. Im Dezember geht sie nach München, um in einer Kindertagesstätte zu arbeiten. Wie viele junge, gut ausgebildete Griechen musste sie sich entscheiden: Arbeitet sie in ihrem Heimatland für einen Hungerlohn oder gar überhaupt nicht – oder versucht sie ihr Glück in einem anderen Land. An Deutschland finden derzeit besonders viele griechische Auswanderer Gefallen.
Ioanna Sarri hatte gehört, dass es in Deutschland zu wenige Erzieher gibt. “Ich habe im Internet recherchiert, warum das so ist und dann beschlossen: Ich mach das”, sagt sie. Noch wird in Deutschland nur jedes vierte Kind betreut. Ab August 2013 steht jedem Kind vom ersten bis zum dritten Lebensjahr per Gesetz ein Betreuungsplatz zu. Dafür werden noch Erzieher gesucht. Sarri geht nach Deutschland, um dort auszuhelfen – und um überhaupt eine Arbeit zu haben. “Die Situation, die in Griechenland herrscht seit den letzten drei Jahren, macht einen auf Dauer total kaputt”, sagt Sarri. “Das hat nicht nur mit Geld zu tun. Ich habe das Gefühl, dass ich mich in Griechenland nicht entfalten kann und dass es keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt.”
Agenturen bringen Arbeitgeber und Arbeitskräfte zusammen
Vasilios Tsokos hat die Erzieherin nach Deutschland vermittelt. Das hat der griechische Kaufmann zu seinem Geschäftskonzept gemacht: qualifizierte griechische Arbeitskräfte mit deutschen Unternehmen zusammen zu bringen, die Fachkräfte suchen, die sie in Deutschland nicht finden. Er ist der Geschäftsführer der Agentur Axia Personal und hat seit 2010 mehr als 200 junge Lehrer, Maschinenbauer, Ingenieure, Ärzte und Krankenschwestern nach Deutschland vermittelt. Zusätzlich hilft er den jungen Auswanderern bei der Wohnungssuche im Ausland. Diesen Location-Service zahlt der deutsche Arbeitgeber, in 98 Prozent der Fälle.
Einige gehen fröhlich, motiviert und voller Vorfreude, sagt Tsokos. “Die kommen her und fragen: Wann kann ich in den Flieger?” Viele sehen die Krise aber weniger als Chance und leiden sehr darunter. Sie gehen schließlich nicht freiwillig fort. Einige haben sogar noch in letzter Minute einen Rückzug gemacht, sogar mit unterschriebenem Arbeitsvertrag. Tsokos weiß, wovor sie sich fürchten: “Einsamkeit”, sagt er leise.
Vielleicht wird Ioanna Sarri es schaffen, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Vielleicht wird sie glücklicher sein in einem Land, das ihr Sicherheit verspricht. Aber in München kennt sie niemanden. In ganz Deutschland kennt sie niemanden. Zwei Tage lang hat sie sich einmal Dresden angesehen. Was sie mag an einem Land, das sie kaum kennt? Die Sprache, die klassische Musik, die Architektur. Und diese Menschen, die ein Wochenende lang freundlich zu ihr waren.
Deutschland ist kalt aber sicher
Nach vier Stunden Bewerbungsgespräch zusammen mit drei griechischen Mitbewerberinnen war klar: Sarri hat eine Arbeit in Deutschland. Ihr neuer Job startet ausgerechnet im Dezember. Sie wird zu Weihnachten alleine sein. Sie weiß, dass es kalt werden wird. In Athen war es zehn Grad warm im vergangenen Winter, in München minus 20 Grad Celsius. Sarri würde vielleicht auch in Griechenland eine Anstellung finden. Aber sie würde lange suchen und maximal 860 Euro im Monat verdienen. In Deutschland bekommt sie das Doppelte.
“Meine Familie ist traurig”, sagt Sarri. “Sie hoffen, dass ich nur für ein paar Jahre bleibe.” In den 1960er Jahren gingen griechische Fabrikarbeiter ohne Ausbildung nach Deutschland, mit dem Ziel, nur für zwei, drei Jahre zu bleiben und Geld für die Familie zu Hause zu verdienen. “Die Auswanderer heute sind aber gut ausgebildet und wollen zum Großteil endgültig nach Deutschland ziehen, um dort Karriere zu machen”, sagt Tsokos. Die Beweggründe, sein Heimatland zu verlassen, sind wieder die gleichen: Armut und Angst vor der Zukunft.
Es gibt Bereiche, in denen es in Griechenland gar keine Arbeitsplätze gibt. Ein Chemieingenieur etwa kann in Griechenland nichts tun. Es gibt keine Chemieindustrie in Griechenland. “Und Deutschland ist in diesem Bereich führend”, sagt Tsokos. In seiner Agentur laufen täglich 20 bis 30 Lebensläufe ein. Hunderte junge Menschen wollen zum Arbeiten nach Deutschland. Warum Deutschland? “Es ist die Stabilität, die Deutschland verspricht”, sagt Tsokos. “Auszuwandern ist eine sehr schwierige Entscheidung. Durch die Medien wird das Bild vermittelt, dass in Deutschland der Arbeitsmarkt offen ist, es kaum Arbeitslosigkeit und gute Löhne gibt und das System nicht so korrupt ist wie in Griechenland.” Außerdem kenne jeder jemanden, der irgendwann einmal in Deutschland war. Es scheint: Wer dort war, dort aufgewachsen ist oder einmal gearbeitet hat, hat heute ein gutes Leben. “Und: Deutschland ist Zentrum Europas. Wirtschaftlich sowieso”, sagt Tsokos. “Wir müssen den Griechen Deutschland gar nicht schmackhaft machen.” Das zerrüttete Verhältnis während der Eurokrise scheint hier keine Rolle zu spielen.
Deutschkenntnisse sind Voraussetzung
Etwa 15 Prozent der Initiativbewerber könne er mit einem suchenden deutschen Arbeitgeber zusammenbringen, sagt Tsokos. Von 100 Bewerbern können nur zehn bis 15 so gut Deutsch, wie es verlangt wird. Im Bereich Informatik interviewen die deutschen Arbeitgeber die Bewerber gerne über Skype, reden stundenlang am Telefon oder sie holen sie für ein Bewerbungsgespräch nach Deutschland. Erzieher und Lehrer werden von den Personalchefs meist in Athen selbst begutachtet.
Die Bewerbung bei der Agentur zu hinterlegen ist kostenlos. Der Arbeitgeber zahlt alle Kosten, sobald ein Vertrag zustande kommt. Tsokos weiß: Die deutschen Arbeitgeber mögen griechische Kräfte. “Sie sehen, dass wir Griechen sehr gut ausgebildet sind. Außerdem sind wir auch ein europäisches Land, daher gibt es keine allzu großen kulturellen Unterschiede”, sagt Tsokos. “Ich kann mir auch vorstellen, dass die griechischen Arbeiter noch von den 1960er Jahren einen guten Ruf in Deutschland haben. Wir hatten keine Probleme, uns zu integrieren.”
Die neuen und die alten Auswanderer
Nikos Papadopoulos ist einer von ihnen. Er ist heute 78 Jahre alt. 1960, mit 26 Jahren, ist er nach Deutschland gegangen. Die Arbeitslosigkeit in Griechenland lag damals bei rund 35 Prozent und die Griechen wanderten massenhaft nach Deutschland aus.
17 Jahre lang hat Papadopoulos in Göppingen gelebt. Als ungelernter Gastarbeiter hat er in zwei Fabriken und als Kontrolleur gearbeitet. “Deutschland hat mir eine Chance gegeben”, sagt er heute. “Ich habe sehr gute Erinnerungen an Deutschland. Ich glaube, wenn man einen Deutschen respektiert, dann respektiert er einen auch.” Jungen Griechen, die heute nach Deutschland gehen, rät er vor allem, gut Deutsch zu lernen und immer den Kontakt zu der Gesellschaft zu suchen.
“Der Großteil der neuen Auswanderer wird in Deutschland bleiben”, sagt Tsokos. “Ich glaube nicht, dass sich die Lage in Griechenland so stark verändern wird, dass viele zurückkommen werden.” Für griechische Arbeitnehmer gilt – wie für alle EU-Bürger – die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie können nach Deutschland ziehen und dort arbeiten. Deutschland wirbt innerhalb und außerhalb der EU für die Zuwanderung von Fachkräften. Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), sieht dennoch Probleme. Arbeitskräfte aus anderen Ländern würden in Deutschland oft zu schlechteren Konditionen beschäftigt. Der DGB fordert daher: “Wenn Menschen aus EU-Ländern in den deutschen Arbeitsmarkt eingegliedert werden, sollten Personalräte nicht nur über die Einstellung entscheiden”, sagt Buntenbach. Der Betrieb müsse auch selbst für die berufliche Integration aller Beschäftigten sorgen.
Willkommen in Deutschland
Ionna Sarri hat ein wenig Angst vor pöbelnden Deutschen. “‘Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg’, sagen die Deutschen gerne und meinen wohl alle mit weiterem oder engerem Migrationshintergrund.” Der DGB sieht aber keine Hasswelle auf die Griechen in Deutschland zukommen: “Die Gewerkschaften setzen sich über die Betriebsräte und auch in der Gesellschaft dafür ein, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit abzubauen.” Auch Vasilios Tsokos bleibt gelassen. “Die Deutschen sehen ja auch, dass etwa durch die griechischen Erzieherinnen ihre Kinder einen Betreuungsplatz haben.”
Ob Sarri nun endgültig auswandert oder in Deutschland nur ein wenig Geld verdienen und für eine Zukunft in Griechenland sammeln wird, wewiß sie noch nicht. Sechs Wochen bleiben ihr, um sich auf ihr neues Leben in Deutschland vorzubereiten. Ihr Diplom ist übersetzt, der meiste Papierkram erledigt. Ja, sie ist nervös. Aber sie freut sich auch darauf, wieder arbeiten zu dürfen.
Laut Statistischem Bundesamt sind seit 2010 mehr als 20.000 Griechen nach Deutschland gezogen, Ende 2011 haben rund 284.000 Griechen in Deutschland gelebt, im September 2012 waren es mit rund 314.000 elf Prozent mehr. 119.600 der Griechen in Deutschland sind laut Bundesagentur für Arbeit (BA) beschäftigt, rund ein Fünftel von ihnen arbeitet in 400-Euro-Jobs. Während 2010 noch 85.000 Griechen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, sind es 2012 schon knapp 102.000. Nahezu die Hälfte der Griechen in Deutschland ist laut BA in der Gastronomie beschäftigt.
Ein Sprecher der BA vermutet: Es werden in den kommenden Monaten noch mehr Südeuropäer zur Jobsuche nach Deutschland kommen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bestätigt, dass Menschen aus von der Schuldenkrise besonders betroffenen Ländern verstärkt nach beruflichen Perspektiven in Deutschland suchen: “Wegen der zunehmenden Engpässe an Fachkräften sind gut qualifizierte Bewerber bei den Unternehmen gefragt”, sagt ein BDA-Sprecher. Von einem Ansturm auf den deutschen Arbeitsmarkt könne aber keine Rede sein. –