WIRTSCHAFTSDIALOG

DIALOG

Zypern – wo sogar Fußball keine Brücken schlägt

Von Christian Hoch 

Ihre Stimme stockt. Die Augen füllen sich mit Tränen. Trotzdem lächelt sie. Aber das Lächeln von Angela Ioannou ist kein fröhliches Lächeln. Es ist vielmehr der verzweifelte Versuch, den Glauben an ihren Lebenstraum nicht zu verlieren. „Mein größter Wunsch ist es, dass meine Mannschaft irgendwann einmal wieder in einem vereinten Zypern Fußball spielen kann.“ Vor sechs Jahren schien die Erfüllung ihrer Sehnsucht zum Greifen nahe. Mittlerweile ist sie so weit entfernt wie nie zuvor.

Das letzte offizielle Spiel

Oktober 1955. Halbfinale des zyprischen Ligapokals. Der 4:1-Erfolg von Pezoporikos gegen Chettin Kaya ist bis heute das letzte offizielle Fußballspiel einer griechisch-zypriotischen Mannschaft gegen eine türkisch-zypriotische Auswahl gewesen. Denn das Jahr 1955 und der damalige Beginn des Bürgerkriegs hatten nicht nur in die Teilung der Nation gemündet, sondern auch dafür gesorgt, dass aus einem einheitlichen Fußballverband zwei unterschiedliche wurden: der zyprische Fußballverband (CFA) und der türkisch-zypriotische Verband (KTFF). Der eine zuständig für den Süden, der andere für den Norden. Der eine offiziell anerkannt und finanziell unterstützt von der UEFA, der andere ausgeschlossen – auch von allen Wettbewerben und finanzieller Unterstützung. Dann passiert lange nichts.

Foto: Cettin Kaya

Foto: Cettin Kaya

5. November 2013. Zürich. FIFA-Zentrale. Das Fußballland Zypern steht erneut vor einem historischen Moment: die Wiedervereinigung der zwei existierenden Fußballverbände. An diesem Novembertag in der Schweiz wollten sowohl FIFA und UEFA als auch die Vertreter beider Fußballverbände die Trennung aufheben, ein Zeichen an die ganze Nation senden und beidseitig profitieren. Das Versprechen der UEFA bei einer Fusion: mehr Geld, bessere Strukturen, Schulungen für Spieler und Schiedsrichter. Mit der Unterschrift unter einem offiziellen Abkommen schien die Wiedervereinigung offiziell. Doch am Ende blieb alles so wie es seit 64 Jahren war.

Zürich-Abkommen – die Türkei als Grund für das Scheitern 

Für Angela Ioannou könnte alles so einfach sein. Sie ist die Vorsitzende vom zyprischen Viertligisten AC Orfeas Nikosia – als einzige Frau an der Spitze eines Fußballvereins auf Zypern. Sie sehnt sich nach etwas Wichtigerem als drei Punkten und Traumtoren: der Wiedervereinigung Zyperns: „Fußball ist für die Menschen in Zypern genauso wichtig wie für die Brasilianer”, behauptet Ioannou: „Es bedeutet alles für die Leute hier. Die Menschen definieren ihre Identität und Ansichten über den Fußball. In jeder Familie wird den ganzen Tag über nichts Anderes gesprochen.” Für Angela Ioannou kann diese Liebe das Zugpferd sein: „Ich glaube fest daran, dass Fußball die Kraft hat, die Menschen auf Zypern zu vereinen. Es ist der einzige Sport, bei dem Unterschiede wie die Herkunft, Nationalität und Hautfarbe keine Rolle spielen.“ Mit dieser Einstellung führt Angela Ioannou ihren Verein und geht als Beispiel für ihre Spieler voran.

Costakis Koutsokoumnis, bis zu seinem Tod Präsident des zypriotischen Fußballverbandes, hatte wirklich alles versucht. Gemeinsam mit Hasan Sertoglu, bis heute Präsident des zypriotisch-türkischen Fußballverbandes saß er damals 2013 in Zürich bei der FIFA an einem Tisch, wollte die Wiedervereinigung unbedingt erreichen. Doch spätestens zwei Jahre nachdem er seine Unterschrift unter das offizielle Abkommen gesetzt hatte, musste er sich eingestehen, dass er mit seinem Vorhaben an unüberwindbaren Mauern gescheitert war: Bis heute ist die Wiedervereinigung nie in Kraft getreten. Koutsokoumis erklärte bis zu seinem Tod immer wieder, dass die Verantwortlichen aus dem Norden nie die noch notwendigen Dokumente an das Parlament im Süden gesendet hätten, um das Abkommen definitiv in Kraft treten zu lassen. Dass es am Ende tatsächlich am Norden scheiterte, darüber sind sich alle einig. Viele glauben aber, dass es nicht die Entscheidung der KFTT-Verantwortlichen war, den Deal platzen zu lassen. Die einhellige Meinung: Die Türkei, die den zypriotischen Norden in ihrem Besitz hat und mit Geld, Strom und Wasser versorgt, hat den KFTT-Verband dazu gezwungen. Aus Angst vor finanziellen Einbußen und Konsequenzen für die Gesundheit der Bevölkerung hätten die Verantwortlichen im Norden dann den Deal einfrieren lassen. Der zypriotisch-türkische Fußballverband bestreitet, dass man von der türkischen Politik aus Druck bekommen habe. Vielmehr würde die Türkei den Norden Zyperns immer sehr gut unterstützen. Die ganze Wahrheit liegt aber bis heute irgendwo zwischen der Schweiz, der Türkei und Zypern vergraben.

Ein Fußballspiel mit zwei Verlierern 

Mehr als eine Stunde trainiert die Mannschaft von Angela Ioannou bereits auf einem Feld, das mehr einem umgepflügten Kartoffelacker und weniger einem Fußballplatz gleicht. Niikolaos Giannouris, 32 Jahre alt und damit einer der ältesten Spieler im Verein, läuft alleine auf das gegnerische Tor zu. Fünf Meter davor schnellt sein rechter Fuß hervor – Torschuss abgefeuert. Der Ball zischt in Richtung oberer Torwinkel. Wäre er nicht gegen die Latte geprallt, dann wäre er weiter in Richtung einer großen Mauer mit einer Kontrollstation auf der Spitze geflogen. Sie trennt seit jeher den Norden vom Süden. „Ich glaube, dass der Fußball unsere Nation zusammenbringen kann”, sagt Giannouris ganz im Sinne von Angela Ioannou und erklärt weiter: „Die jüngere Generation in unserem Land ist viel offener dafür und lebt es vor. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, was für schlimme Dinge in der Vergangenheit passiert sind, aber wir müssen jetzt nach vorne schauen, um eine bessere Zukunft für die Menschen in unserem Land zu schaffen. Wenn die Menschen sowohl aus dem Norden und dem Süden zusammenhalten, dann können wir es schaffen, unser Land zusammenzubringen.“ Aber würde er, der im Süden geboren wurde, auch für eine Fußballmannschaft aus dem Norden Zyperns spielen? „Warum denn nicht?“, fragt Giannouris zurück: „Ja, ich würde es machen.“ Doch nicht jeder seiner Mitspieler teilt diese Ansicht.

Da wäre zum Beispiel Andreas Chatyipetrou, 21 Jahre alt und damit eigentlich Teil der jüngeren Generation. „Ich denke, dass der Fußball das Land nicht vereinen kann. Dafür ist die politische Situation viel zu schwierig. Ich selbst würde eher nicht für ein zyprisch-türkisches Team spielen wollen.“ Uneinigkeit im Fußball. Uneinigkeit im ganzen Land. Trotzdem gibt es Lichtblicke, wie im März 2019.

Die Stelios-Stiftung Zypern organisierte damals eines der ganz wenigen Freundschaftsspiele zwischen einer Mannschaft aus dem Norden und einem Team aus dem Süden. Mehr als 400 Menschen aus beiden Teilen des Landes kamen, um die Partie zwischen Nea Salamina und Mougusa Turk Gusu SK zu sehen – ein Hoffnungsschimmer. Marius Eliades, einer der Initiatoren, sitzt neun Monate danach im Besprechungsraum der Stiftung und erinnert sich an diesen besonderen Tag: „Die ganze Atmosphäre war fantastisch. Den Leuten war anzusehen, dass sie sich wohl fühlen. Es hat mich wirklich sehr bewegt, das zu sehen. Ich bin ein Träumer und mein Traum ist es, dass die Menschen in unserem Land dieses Gefühl der Einigkeit wieder dauerhaft erleben können.“ Die Stelios-Stiftung plant weitere Schritte und Zeichen gegen Vorurteile und die Trennung vom Norden und dem Süden: Im kommenden Jahr soll es ein nächstes Freundschaftsspiel geben. Außerdem sei ein gemeinsames Sport-Komitee in Planung, um einen kontinuierlichen Austausch zwischen CFA und KFTT zu etablieren. Könnte das Kommitee helfen, dass sich die beiden Assoziationen wieder annähern? Daran glaubt nicht jeder.

Der Süden schweigt – der Norden spricht 

Erodotos Miltiadous, der Präsident des Verbandes zypriotischer Sportjournalisten, kennt die Probleme, Herausforderungen und Hürden, die der Kampf für die Wiedervereinigung beider Fußballverbände mit sich bringt. Jahrelang hat er die Bestrebungen der CFA und der KFTT journalistisch begleitet. Er glaubt nicht, dass der Fußball als Sportart ausreicht, einen historisch und emotional aufgeladenen Politik-Konflikt auszuhebeln: „Solange es die Trennung im Land gibt und die Politiker keine Lösungen anstreben, wird auch der Fußball und der Sport nichts ausrichten können. Kleine Hoffnungsschimmer hat es immer wieder in den vergangenen 60 Jahren gegeben, gebracht haben sie am Ende nichts. Sport wird nie der Hauptgrund sein können, Zypern zu vereinen. Mit dem Abkommen aus dem Jahr 2013 waren die Verantwortlichen damals ziemlich weit, aber selbst sie mussten sich geschlagen geben – eine vergebene Chance, die so schnell nicht wiederkommen wird.“

Orcun Kamadi, seines Zeichens Vize-Präsident des türkisch-zypriotischen Fußballverbands, ist am Telefon ein freundlicher Gesprächspartner. Anrufer lässt er zumeist nicht lange in der automatisierten Warteschleife – schnell verstummen die blechernen Klänge eines türkischen Pop-Songs. Bei zwei Fragen wird der Vize-Präsident vorsichtig: Wieso trat der KFTT 2013 vom Züricher Abkommen zurück? Und könnte heutzutage nicht einfach ein neuer Versuch unternommen werden? Im Zuge des Züricher Abkommens habe der zypriotische Verband im Anschluss vom zypriotisch-türkischen Verband das Registrierungspapier aus dem Jahr 1955 – also kurz vor der Aufspaltung – eingefordert. Weil der KFTT dieses Dokument nicht mehr auffinden konnte, habe man es nicht einsenden können und der Deal sei eingefroren. Auch der Tod von Koutskoumnis und die Tatsache, dass Sertoglu 2013 zum politischen Spitzenkandidaten für die Gemeinde im Norden wurde, seien Faktoren für das Scheitern gewesen. Man habe sich bei der KFTT lange Zeit nicht mehr mit dem Thema auseinandergesetzt, derzeit seien keine Überlegungen geplant, sich dem Süden noch einmal anzunähern.

Dabei ist die Sehnsucht der Fußballspieler im Norden Zyperns größer denn je: Seit 64 Jahren dürfen sie an keinem einzigen internationalen Freundschaftsspiel teilnehmen, ihre Trainingseinheiten absolvieren sie manchmal auf Hotelparkplätzen, weil die eigenen Stadien und Fußballfelder in zu schlechtem Zustand sind. Kamadi gibt dafür der UEFA und der FIFA die Schuld: „Beide Verbände interessieren sich nicht für unsere Probleme und den großen Traum unserer Fußballspieler. Sie kümmern sich nur um die Verbände, die auch Teil von ihnen sind. Die FIFA behauptet immer, der Fußball wäre dazu da, um Frieden zu stiften und Menschen zusammenzubringen. Und dann lassen sie unsere Jugend noch nicht einmal an Freundschaftsspielen teilnehmen. Das ergibt keinen Sinn.“ Der Norden spricht und verspricht eine Sache: „Wir wollen den Austausch, wir wollen auch gegen Mannschaften aus dem Süden Zyperns spielen. Doch von anderen Seiten aus gibt es derzeit keine Bemühungen.“ Tatsächlich ist die Wiedervereinigung beider Fußballverbände im Süden zum Tabuthema geworden. Die Situation ist schwieriger, die Fronten verhärteter als je zuvor.

Die Angst vor der unvorbereiteten Katastrophe 

Nach der Entscheidung des Internationalen Sportgerichtshofs, den Kosovo international anzuerkennen, also als Bestandteil von FIFA und UEFA zu sehen, geht die Angst um, es könnte auch Zypern treffen. Hinter vorgehaltener Hand ist aus Verbandskreisen des Südens zu vernehmen, dass befürchtet wird, das Gericht könnte ähnlich in Bezug auf den Norden entscheiden. Der KFTT-Verband sagt, dass man davon nichts wisse. Inoffizielle Treffen im Hinterzimmer der UEFA seien laut dem Süden jedoch bereits angesetzt. „Das würde das Land unvorbereitet treffen und zu einer großen Katastrophe führen. Die Leute hier sind nicht bereit”, sagt Petros Papagiorgis. Der Sportjournalist sitzt in einem Café in Nikosia und rührt mit einem Löffel in seinem Eiskaffee herum. Er berichtet seit 1985 über den Fußball auf Zypern und damit auch über den Konflikt beider Fußballverbände. Auch er hat die Angst mitbekommen, die momentan umgeht: „Ich kann nicht abschließend bewerten, ob die Kosovo-Entscheidung auch automatisch mit der Situation auf Zypern zusammenhängt, aber auf jeden Fall besteht die Möglichkeit. Meiner Meinung nach wird die UEFA am Ende aber auch aus eigenem Interesse wohl eher alles so lassen wie bisher.“ Auch Orcuan Kamadi vom KFTT meint: “Die UEFA will sich nicht einmischen, weil das Thema zu politisch ist. Das ist zumindest immer die Antwort, die wir bekommen.”

Damals bei der Vertragsunterzeichnung 2013, die fast zur Vereinigung geführt hätte, grinsten Ex-FIFA-Präsident Sepp Blatter und Ex-UEFA-Präsident Michel Platini, der nach Korruptionsvorwürfen im Zuge der WM-Vergabe nach Katar bis Juni 2019 im Gefängnis war, in die Kameras der Medienvertreter und waren nicht müde, die Wichtigkeit dieses Moments öffentlich zu betonen. Noch heute sind die Statements auf der offiziellen FIFA-Webseite zu finden. Joseph Blatter damals: „Sowohl der zypriotische als auch der türkisch-zypriotische Fußballverband zeigen der Welt heute eindrucksvoll, wie der Fußball Brücken schlagen und die Menschen nach langwierigen Konflikten zusammenführen kann. Ich möchte beiden Verbänden und der UEFA für ihren herausragenden Beitrag zu diesem wegweisenden Abkommen gratulieren.“ Was sagen die internationalen Dachverbände des organisierten Fußballs sechs Jahre später?

Das aussagekräftige Schweigen der UEFA 

Sie verkriechen sich unter den Deckmantel des Schweigens. Die UEFA, als europäischer Fußballverband verantwortlicher Ansprechpartner, möchte sich öffentlich nicht äußern. Das Thema sei zu emotional aufgeladen und zu sensibel. Darüber hinaus sei der Zeitpunkt unglücklich, um sich mit dem Thema zu beschäftigen. Immerhin hätten soeben die Auslosungen der UEFA-Europameisterschaft-Gruppenphase im Jahr 2020 stattgefunden. Da gebe es nun einmal viele wichtige Dinge zu erledigen und zu regeln. Der zypriotische Fußballverband hätte bei dieser Auslosung auch im Topf sein können, wenn er sich sportlich qualifiziert hätte. Das tat er zwar nicht, aber immerhin hatte er die Chance. Ganz im Gegensatz zum türkisch-zypriotischen Verband. Er wird definitiv auch bei der nächsten Verlosung nicht dabei sein, weil er von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen ist und wohl auch erst einmal weiter bleibt. Noch nicht einmal Freundschaftsspiele darf er bestreiten, infrastrukturell gibt es keinerlei Unterstützung. Es könnte alles so einfach sein.

Ihre Stimme stockt. Die Augen füllen sich mit Tränen. Trotzdem lächelt sie. Aber das Lächeln von Angela Ioannou ist kein fröhliches Lächeln. Es ist vielmehr der verzweifelte Versuch, den Glauben an ihren Lebenstraum nicht zu verlieren. „Mein größter Wunsch ist es, dass meine Mannschaft irgendwann einmal wieder in einem vereinten Zypern Fußball spielen kann.“ Vor sechs Jahren schien die Erfüllung ihrer Sehnsucht zum Greifen nahe. Mittlerweile ist sie so weit entfernt wie nie zuvor.

*der Artikel entstand Anfang Dezember 2019

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