INTERVIEWS
DIALOG
Sophokles und Brecht statt Abschiebung und Gefängnis
Luisa Jacobs
Olgas Schüler kennen Bob Dylan nicht. Sein berühmtes The Times They Are A-Changing haben sie zum ersten Mal mit Olga gehört. „Da habe ich erst begriffen, dass wir in zwei völlig verschiedenen Welten leben“, sagt Olga Nikolaidou. Seit vier Jahren ist sie freiwillige Lehrerin an der Sonntagsschule in Athen. Ihre Schüler, die heute morgen zu Olga in das provisorische Klassenzimmer im Nordwesten Athens kommen, sind zwischen 19 und 65 Jahren alt. Sie kommen von überall her, nur nicht aus Griechenland. Auf ihrem Weg nach Griechenland, aus Pakistan, Syrien oder Afghanistan sind sie Bob Dylan noch nie begegnet.
Fotos von Olga Nikolaidou
Dafür kennen sie Dublin 2. So heißt ein Abkommen zwischen allen EU-Mitgliedern – wer in der Europäischen Union Asyl beantragt, muss in dem Land bleiben, wo er zuerst die Grenze zur EU überschritten hat. Und in Griechenland passiert das besonders oft. Fast die Hälfte aller Flüchtlinge, die in der EU Asyl beantragen, kommt über Griechenland. Für seinen Umgang mit den Immigranten wird Griechenland inzwischen regelmäßig kritisiert: brutale Polizeikontrollen, unberechtigte Festnahmen, unzumutbare Gefängnisse – selbst vom Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist Griechenland dafür schon verurteilt worden.
Olga will den Flüchtlingen helfen. Die 43 Jahre alte Frau glaubt, dass jeder Mensch in der Fremde Unterstützung braucht. Als es in den sechziger Jahren tausende Gastarbeiter von Griechenland nach Deutschland zog, hätten die dort auch auf die Unterstützung ihrer Landsleute bauen können. Für die Flüchtlinge in Griechenland heute aber werde viel zu wenig getan. Also unterrichtet sie.
Nicht nur die griechische Sprache will Olga ihren Schülern beibringen. „Sprache muss man fühlen und mit dem Körper ausdrücken können“, sagt Olga und während sie spricht werden ihre Handbewegungen immer schneller. Mit den Schülern, die schon etwas griechisch sprechen, übt sie deshalb Theaterstücke und liest griechische und deutsche Klassiker. Von Sophokles und Brecht könne man lernen weshalb es sich nicht lohnt rassistisch zu sein.
Auch für Olga sind die Unterrichtsstunden eine Bereicherung. Manchmal fühle sie sich, als habe sie die Herkunftsländer ihrer Schüler selbst bereist. „Ich glaube, dass ich mehr von den Immigranten bekomme als ich ihnen geben kann“, sagt Olga, und blickt auf die riesige Weltkarte, die im Klassenzimmer an der Wand hängt. Auf den ersten Blick sieht es aus wie in jedem anderen Klassenzimmer. Das Plakat mit dem griechischen Alphabet, die vollgekritzelten Tische und Olga, die immer wieder etwas auf die grüne Tafel schreibt. Aber jeder hier trägt eine Jacke, und als Olga spricht, kondensiert ihr Atem. Olga unterrichtet in einer leerstehenden Wohnung, Heizung und warmes Wasser gibt es hier nicht.
Alle Materialien und auch die Wohnung werden von Freiwilligen zur Verfügung gestellt. Außer Olga arbeiten noch 20 andere Freiwillige für die Sonntagsschule. Vor allem alte Lehrer, junge Studenten und Anwälte engagieren sich. Das Engagement der Freiwilligen ist auch ein politisches Statement, die meisten Freiwilligen sympathisieren mit dem was Olga das linke Lager nennt: „Es ist unsere Art den Rassismus in Griechenland zu bekämpfen“
Olgas Schüler sollen einmal zu mündigen und arbeitenden Bürgern werden. Deshalb findet der Unterricht auch nur am Wochenende statt, viele Immigranten haben schon Arbeit, andere suchen noch. Wer Griechisch spricht, hat bessere Chancen auf dem Markt – jeder von Olgas Schülern versucht, die Sprache so schnell wie möglich zu lernen. Haben sie Probleme mit einer Bewerbungen oder bürokratischen Auflagen, auch dann hilft Olga.
Jetzt, zum Ende des Unterrichts singt Olga wieder ein Lied mit ihren Schülern. Zwei Wochen vor Weihnachten ist es eine griechische Version von Kling, Glöckchen. Ein bisschen verlegen greifen die Schüler bei jedem Refrain nach den goldenen Glöckchen, die Olga mitgebracht hat. Kling, Glöckchen, klingelingeling. Bei den Strophen legt sich nur Olgas sanfte Stimme über die Musik des Kassettenrekorders.
Die meisten Immigranten, die in die Sonntagsschule kommen, sind keine Christen. Blinkenden Weihnachtsschmuck und Tannenbäume sehen hier viele zum ersten Mal. Zum Schluss des Unterrichts hat Samer, der Syrer, deshalb noch eine Frage. Er will von Olga wissen, was man den Griechen am besten zu Weihnachten schenken sollte. Im vergangenen Jahr, kurz nach seiner Ankunft hier, hat eine alte Dame ihm eine rote Weihnachtskerze in die Hand gedrückt hat. Dieses Jahr möchte er etwas zurückgeben.