INTERVIEWS
DIALOG
Raus aus dem gelobten Land
Armin Peter
Perspektivlosigkeit in Zeiten der Krise und wachsender Fremdenhass vertreiben immer mehr illegale Migranten aus Griechenland. Sie kehren lieber in ihre unsichere Heimat zurück – und hoffen dort auf einen Neuanfang.
Vor der pakistanischen Botschaft in Athen herrscht Gedränge. Etwa 70 Männer warten vor dem verwaschenen Betonbau mit abgedunkelten Fenstern, um Pässe und Visa zu beantragen. Viele von ihnen sind illegal ins Land gekommen und haben bei der Einreise alle Papiere vernichtet, um ihre Herkunft zu verschleiern. Jetzt, da die Krise Europa fest im Griff hat, möchten sie zurück in die Heimat. Doch nicht nur der ökonomische Druck treibt sie aus dem Land: Ausländerfeindliche Einstellungen haben in Griechenland erheblich zugenommen. Schlägertrupps der rechtsradikalen Partei „Goldene Morgenröte“ ziehen mit Baseballschlägern und Hunden durch Athen und verprügeln jeden, den sie für einen Migranten halten. Unter den Männern vor der pakistanischen Botschaft gibt es niemanden, der keine Angst hat.
Pakistanis warten vor der Botschaft ihres Heimatlandes – viele haben bei der Einreise ihren Pass zerrissen.
(Foto: T. Trompoukis)
„Wenn sie nachts einen Afghanen, Pakistaner oder Bangladeschi sehen, schlagen sie ihn halbtot und nehmen seinen Pass, das Geld und das Handy – dann lassen sie ihn liegen“, sagt Muhammad, ein unauffälliger, schmaler Mann mit leichten grauen Strähnen. Der 28-Jährige kam vor neun Jahren von Pakistan nach Griechenland – jetzt will er nur noch weg. Seinen richtigen Namen möchte er nicht verraten, fotografieren lässt er sich nicht mal von hinten. Mit einigen Freunden steht er schon seit einigen Stunden Schlange. Sie bilden eine Traube um Muhammad und verfolgen aufmerksam das Interview. „Vor der Krise war das Leben hier sehr schön, aber jetzt gibt es nur noch zwei oder drei Tage pro Monat Arbeit“, sagt Muhammad. „Ich verlasse mein Haus nur zum Arbeiten und komme danach sofort zurück. Nach sieben Uhr abends gehe ich gar nicht mehr weg.“
Gesellschaftliches Klima wird rauer
Wie so viele andere Illegale wurde auch Muhammad von Menschenschmugglern über den Iran und die Türkei eingeschleust. Er nahm die Strapazen der gefährlichen Reise auf sich, hoffte auf ein besseres Leben. 2003 war das, und die Reise kostete ihn 4000 Euro. Einige Jahre lang habe er in der Stahl- und Aluminiumindustrie gearbeitet, so Muhammad. Dann wurde es immer schwieriger.
Inzwischen hat die Krise fast alle Jobs aufgefressen, die früher – oft unter der Hand – an illegale Migranten vergeben wurden. Auch unter Griechen ist die Arbeitslosigkeit hoch, im Juli 2012 lag sie laut offiziellen Angaben der Griechischen Statistikbehörde bei 25,1 %. Hinzu kommt, dass der griechische Staat infolge der drastischen Sparpakete Sozialleistungen kürzen und Subventionen streichen musste. Der ökonomische Druck treibt eine zunehmende Zahl illegaler Einwanderer zurück in ihre Heimatländer – auch weil das gesellschaftliche Klima dadurch rauer wird. Polizei und Behörden sind mit dem Migrationsproblem überfordert, rechte und linke Extremisten gewinnen auch parteipolitisch an Zulauf. Die rechtsextreme Bewegung „Goldene Morgenröte“ zog nach der letzten Wahl mit sieben Prozent und 18 Sitzen ins griechische Parlament ein. Eine wachsende Zahl von Griechen sehnt sich nach Recht und Ordnung.
So auch Nikias Naoum, der vor seinem familiengeführten Lebensmittelgeschäft steht und genervt auf die Pakistanis blickt. Der kleine Laden ist nur 200 Meter von der pakistanischen Botschaft im noblen Athener Stadtteil Kolonaki entfernt, die Schlange reicht oft bis vor seine Tür. „Seit fast fünf Jahren geht das nun schon so“, sagt der sportliche 54-Jährige. „Jeden Tag eine neue Menschenmenge, immer andere Gesichter. Völlig unorganisiert, die sitzen in allen Hauseingängen. Können Sie sich vorstellen, wie viele von denen es hier gibt?“ Außerdem seien die Pakistanis schlecht fürs Geschäft, auch wenn manche bei ihm Getränke kaufen würden: „Ich zahle für meinen Laden Miete. Und gleich nebenan verkaufen diese Leute auf der Straße Reis mit Hähnchen und was nicht noch alles.“ Von der Polizei fühlt sich Nikias Naoum allein gelassen. Die Beamten täten nichts, um das Chaos einzudämmen.
Ladenbesitzer Nikias Naoum: “Pakistanis sind schlecht fürs Geschäft.”
(Foto: T. Trompoukis)
In manchen Gegenden Athens rufen Geschäftsinhaber die rechtsradikalen Schlägermilizen der Goldenen Morgenröte zur Hilfe, wenn sie den Eindruck haben, dass zu viele Illegale in ihrer Straße sind und die Polizei untätig bleibt. Nikias Naoum sagt, dass er so weit nicht gehen würde: „Ich bin nicht für die Goldene Morgenröte. Wobei das schon eine Möglichkeit wäre, diese Leute da zu organisieren. Die haben den Griechen ja auch viele Jobs weggenommen. Wenn es nur so geht, dann ist die Goldene Morgenröte leider die Lösung. Denn das kann doch hier nicht jeden Tag so ablaufen.“
Wie viele Migranten und Flüchtlinge zurzeit in Griechenland sind, weiß niemand genau. Es gibt kaum belastbare Daten. Fest steht nur: Ein großer Teil von ihnen hält sich illegal im Land auf. Staatssekretär Patroklos Georgiadis vom griechischen Innenministerium schätzt, dass 500.000 legale und ebenso viele illegale Migranten in Griechenland leben – rund 12 Prozent der Bevölkerung. Viele von ihnen tauchen in Athen unter.
Asylantrag nur Samstagvormittag möglich
„Griechenland ist in den letzten Jahren die Hauptanlaufstelle für Migranten geworden“, sagt Ketty Kehayioylou, Pressesprecherin des UNHCR in Griechenland. Durch den Grenzzaun am Fluss Evros habe sich der Strom der Migranten seit August wieder auf die griechischen Inseln verlagert. Sie beobachtet die Entwicklung mit Sorge: „Unter denjenigen, die von der Polizei verhaftet und abgeschoben werden, sind viele Menschen, die internationalen Schutz benötigen, weil ihr Leben in Gefahr ist.“ Asyl zu beantragen sei für die Neuankömmlinge sehr schwierig: „Einen Asylantrag kann man in Athen nur am Samstagvormittag stellen. 20 Personen pro Woche wird dieser Zugang gewährt“, erklärt Kehayioylou. „Die Behörden sagen, es gebe nicht mehr Kapazitäten. Zudem hat Athen nur 1000 Unterbringungsplätze für Asylbewerber – das ist bei weitem nicht ausreichend.“ Auch die Anerkennungsrate sei sehr gering: Etwa 30% der Fälle würden in der zweiten Instanz positiv beschieden, so Kehayioylou. Ihre Hoffnungen ruhen nun auf dem Aktionsplan, den die griechische Regierung im August 2010 beschlossen hat, um ein verbessertes Asylsystem zu schaffen. In Untersuchungszentren sollen Migranten und Flüchtlinge nach ihrer Ankunft von Ärzten untersucht und von Psychologen befragt werden um herauszufinden, ob sie Asyl benötigen oder nicht. Das gegenwärtige System Griechenlands ist mit dem Ansturm der Neuankömmlinge chronisch überlastet. Laut Staatssekretär Georgiadis befindet sich der Aktionsplan noch in der Übergangsphase: „Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind und 55.000 noch schwebende Asylverfahren bis Weihnachten abgearbeitet sein werden“, erläutert er.
Dimitris K. Christopoulos, stellvertretender Vorsitzender der Nationalen Menschenrechtskommission Griechenlands, ist der Ansicht, dass die griechische Regierung ihre „Politik des Chaos“ nutzt, um Druck auf die anderen europäischen Länder auszuüben: „Griechenland ist der Krankenwagen Europas für illegale Einwanderer. Allerdings gibt es kein Krankenhaus“, erklärt Christopoulos. „Um Europa zu zeigen, dass wir nicht auch noch das Krankenhaus sein können, hält man die Einwanderer in menschenunwürdigsten Bedingungen. Gleichzeitig sendet Griechenland dadurch ein Signal nach Afrika und Asien: Kommt nicht her, es ist die Hölle.“
Hintergrund
Die überwiegende Mehrheit illegaler Einwanderer kommt über die griechisch-türkische Grenze im Nordosten Griechenlands. Dort, am Grenzfluss Evros, war der Ansturm in den letzten Jahren am größten. Deshalb haben die griechischen Behörden Anfang 2012 einen 10 Kilometer langen Grenzzaun mit 25 Nachtsichtkameras errichtet. Er soll die Überwachung erleichtern und illegale Migration zumindest in diesem Grenzabschnitt eindämmen. Im Jahr 2010 nahm die griechische Polizei 132.524 Personen beim Grenzübertritt fest, die Hälfte von ihnen wurde sofort wieder abgeschoben. Für das Jahr 2011 spricht die europäische Grenzschutzbehörde Frontex von rund 60.000 entdeckten illegalen Grenzübertritten in Griechenland – ein Anstieg von mehr als einem Drittel gegenüber 2010. Die Zahl derer, die es unentdeckt ins Land schaffen, dürfte aber weit höher liegen. Den griechischen Grenzschutzbehörden zufolge kommen 60% der illegalen Einwanderer aus Afghanistan und Pakistan.
Mehr europäische Unterstützung für Griechenland
Insbesondere die völlig überfüllten Untersuchungsgefängnisse Griechenlands, in denen Illegale oft monatelang bis zu ihrer Abschiebung festgehalten werden, sind in den letzten zwei Jahren von der EU scharf kritisiert worden: Sie entsprächen nicht europäischen Standards. Staatssekretär Georgiadis vom Innenministerium bestreitet das: „Ein Gefangenenlager ist allemal besser, als in einer Pappschachtel auf dem Omonia-Platz schlafen zu müssen“, sagt er. „Europa hat außerdem sehr lange gebraucht, um Griechenlands Problem zu begreifen.“
Um den Druck von der Peripherie des Kontinents zu nehmen, haben etliche europäische Länder, darunter auch Deutschland, die umstrittene Dublin-II-Verordnung zunächst bis Januar 2013 ausgesetzt. Sie sieht vor, dass Asylsuchende, die aus einem sicheren Drittstaat eingereist sind, wieder dorthin abgeschoben werden können und dort Asyl beantragen müssen. Somit landeten viele Asylsuchende, die es bis nach Deutschland geschafft hatten, im Falle einer Verhaftung wieder in Griechenland. Einem Sprecher des Auswärtigen Amtes zufolge entsendet Deutschland darüber hinaus Asylexperten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowie Kräfte der Bundespolizei im Rahmen von Frontex-Operationen und auf bilateraler Basis. Zudem unterstütze Deutschland Vorschläge auf EU-Ebene, die Griechenland leichteren Zugang zu Fördermitteln ermöglichen sollen.
Christopoulos zufolge sind Asylanten allerdings nicht das drängendste Problem: „Selbst wenn Dublin II über Nacht ein fantastischer Vertrag wird, haben wir noch immer das Problem von rund 400.000 Illegalen, die gar kein Asyl beantragen wollen.“ Sein Vorschlag: eine Kampagne zur Registrierung aller illegalen Migranten in Griechenland. „Niemand weiß, von wie vielen Menschen wir hier eigentlich sprechen“, sagt Christopoulos. „Wenn wir eine konkrete, belastbare Zahl hätten, könnten wir damit zur EU gehen und die anderen Länder auffordern, diese Last mit uns zu teilen. Denn Griechenland ist unfähig, so viele Menschen in seinen Markt zu absorbieren.“
IOM-Vorsitzender Daniel Esdras: “Immer mehr illegale Migranten gehen freiwillig zurück.”
(Foto: T. Trompoukis)
Für viele tausend Glückssuchende wird der Sehnsuchtsort Europa somit zur Falle: In Griechenland gibt es durch die Krise keine Arbeit, eine offizielle Asylbewerbung ist in der Regel weitgehend chancenlos. Und in andere EU-Staaten zu reisen ist schwierig, zumal die meisten Illegalen ihre Papiere vor der Einreise vernichten, um eine Abschiebung zu erschweren. Wer es sich leisten kann, zahlt die Heimreise aus eigener Tasche – allerdings muss dazu oft wieder ein Schlepper angeheuert werden, da eine legale Ausreise ohne Papiere nicht möglich ist. Wer Glück hat, bekommt die Gelegenheit, Europa mit Hilfe der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zu verlassen. Sie bietet Illegalen die Chance, in Sicherheit und Würde auszureisen.
„In den letzten Jahren hatten wir eine immer weiter steigende Anzahl von Migranten, die freiwillig nach Hause reisen wollen“, sagt Daniel Esdras. Er ist der Vorsitzende von IOM. Im Erdgeschoss des heruntergewirtschafteten Baus warten auf Bänken einige Dutzend Pakistanis, Afghanen und Senegalesen, in den Händen ihre Dokumente. Hinter einer quietschenden Holztür im ersten Stock sitzt Daniel Esdras an seinem überladenen Schreibtisch. Es ist brütend heiß, die Oktobersonne wird nur von einigen ausgebleichten Holzblenden vor dem Fenster abgehalten. „Wenn wir die Leute fragen, warum sie gehen wollen, sagen sie, dass es früher einfacher war, in andere EU-Länder zu kommen“, sagt er. „Außerdem finden sie durch die Krise keine Jobs und fühlen sich wegen der wachsenden Fremdenfeindlichkeit in Griechenland nicht mehr sicher. Manche kommen mit Wunden und gebrochenen Händen hierher, sie wurden auf der Straße attackiert.“
Neuanfang in Pakistan
Das freiwillige Rückreiseprogramm begann vor zwei Jahren mit 400 Migranten und wurde seither konstant vergrößert. 6000 Illegale sind inzwischen vom IOM zurück in ihre Heimatländer geflogen worden. Drei Viertel der Kosten des Projekts übernimmt die Europäische Kommission, den Rest bezahlt die griechische Regierung. Angesichts der steigenden Nachfrage macht sich Daniel Esdras um die Zukunft des Angebots keine Sorgen. Auch das Innenministerium bestätigt, dass das Programm 2013 fortgeführt werden soll.
Die Organisation bietet nicht nur ein Flugticket, sondern gibt den Ausreisenden auch 300 Euro mit auf den Weg, sodass sie in ihrem Heimatland ein neues Leben beginnen können. „Selbst Leute, die eigentlich gute Chancen auf Asyl hätten, stellen oft keinen Antrag“, erklärt Daniel Esdras. „Denn selbst wenn der angenommen würde, hätten sie noch immer keinen Job und kein Dach über dem Kopf. Deshalb reisen viele selbst in Länder wie Irak oder Afghanistan zurück.“
Für Ali Wakas geht es nach Lahore, Pakistan. Er hat es geschafft, in das Programm von IOM aufgenommen zu werden. Jetzt strahlt er über das ganze Gesicht und kann es kaum erwarten, nach Hause zu fliegen. „Ich habe hier sieben Jahre gelebt, aber jetzt gibt es keine Arbeit mehr“, sagt er in fließendem Griechisch. Außerdem, das betont Ali immer wieder, habe er große Angst vor der „Goldenen Morgenröte“. Einige seiner Freunde seien bereits übel zusammengeschlagen worden. Was er in Pakistan anfangen will, weiß der 26-Jährige noch nicht. „Vielleicht einen Laden eröffnen.“ Weg aus Griechenland, raus aus Europa – nur das zählt für ihn.
Deshalb steht Ali jetzt mit 26 Landsleuten am Athener Flughafen, begleitet von zwei IOM-Mitarbeitern. Sie werden über Doha nach Lahore fliegen, um in Pakistan wieder von vorne anzufangen. Ali Wakas freut sich darauf.