KULTURDIALOG
DIALOG
Kunst des Zurücklassens
Teilung, Unterschiede, Ausgrenzung, Isolation: Zeitgenössische Kunst in Zypern schafft, was der Politik bisher nicht gelingt. Sie lässt zurück, was die Insel spaltet.
von Anna Klein
Zypern hat ein Symbol für das Zurücklassen: Die Geisterstadt Famagusta an der Ostküste. Rostiger Stacheldraht ringelt sich um die Balustraden verfallener Ruinen. Bomben haben Löcher gerissen in die Fassaden früherer Villen. Die elegante Bauhausarchitektur hat sich schlicht dem Verfall ergeben. Kakteen und Büsche wuchern wild, bemächtigen sich des Raumes, der ihnen in der einstigen lebhaften Hafenstadt überlassen wurde. Unfreiwillig. Als 40.000 Menschen von heute auf morgen ihr Zuhause zurücklassen mussten.
“Fake Place” mit Stacheldraht
Türkische Truppen waren im Sommer 1974 in Zypern eingefallen und hatten ein Drittel der Insel zur türkischen Republik Nordzypern erklärt – eine Reaktion auf den Putsch griechischer Militärs, die die Insel an Griechenland angliedern wollten. Zypern ist seither geteilt und die türkische Administration hat ein Drittel von Famagusta zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Das Areal galt lange als Pfand für Gebietsverhandlungen unter den Vereinten Nationen, die jedoch zu keinem Ergebnis führten. Noch heute ist entlang der Absperrung alle paar Meter auf rostroten Schildern zu lesen: Yasak Bölge Girilmez. Verbotene Zone. Der abgebildete Soldat mit Gewehr im Anschlag hat ein sehr reales Pendant: türkische Polizisten beobachten die Zone argwöhnisch. “Weil die Regierung Nordzyperns ja nicht echt ist, leben wir in einem ‘fake place’”, sagt die Künstlerin Nurtane Karagil, für die der Ort Heimat ist, aber nicht real. Denn sie könne ihre Umgebung nicht als real akzeptieren, weil sie damit die Regierung der türkischen Republik Nordzypern (TRNC) akzeptieren würden.
Freiheit im blinden Fleck
Eingerichtet hat sich die junge Künstlerin trotzdem in Famagusta, zwischen historischen Stadtmauern und verfallenden Ruinen. Gemeinsam mit befreundeten Kunstschaffenden hat sie ein Café gegründet, in einem einst verlassenen, dann besetzten Haus. Karagils eigene Großmutter wuchs einst in derselben Straße auf, in der die 30-Jährige gemeinsam mit anderen Künstlern die Hausfassaden bunt besprüht und im Hauseingang der Ruine gegenüber Küchenkräuter angepflanzt hat. “Kunst und Aktivismus verbinden uns, und das ist hier auch nötig”, erklärt die 30-Jährige. Weil es in Nordzypern keine Fördergelder für Kultur gibt und keinerlei finanzielle Infrastruktur für Kunst, verdient Nurtane Karagil ihr Geld an der Eastern Mediterrean University in Famagusta. Kunst sei der blinde Fleck eines unechten Staates, gerade das bringe auch Vorteile: “Wir genießen viele Freiheiten”, erläutert Karagil, “können zum Beispiel in richtig abgefahrenen Locations ausstellen. Ohne Genehmigung”, fügt sie schmunzelnd hinzu. Das kommt bei den Kulturfunktionären im Norden nicht gut an, die ihre nahegelegt hatten, Famagusta zu verlassen.
Kritische Kunst mit Buntstiften
“Remembering the war” ist der Titel eines ihrer Werke. In bunten Farben hat Karagil eine harte Realität zu Papier gebracht. Für die Aktivistin ist Kunst die ehrlichste Art, sich mit Erinnerung auseinander zu setzen. Schulausflüge zu Soldatenfriedhöfen, nationalistische Botschaften an den Fassaden in den Bergdörfern, Moschee-Neubauten, Freunde, die den Wehrdienst verweigern, eine Wasserpipeline vom türkischen Festland. Die Künstlerin benutzt Buntstifte: “Das erinnert auf den ersten Blick an die Zeichnung von Kindern”, erklärt sie, “und da sieht man ja auch immer hin.” Weil bis zum Ausstellungstermin nur drei Wochen Zeit war, habe sie einfach gezeichnet, was ihr in den Kopf kam: “Ohne groß nachzudenken.”
Konflikt als ambivalente Inspiration
Bloße Erinnerung als scharfe Regierungskritik macht Nurtane Karagil gleichzeitig zu einem gefragten Gast im Süden. Als türkische Zypriotin kann die junge Frau jedem Kunstprojekt ein sozialkritisches Alibi verleihen. Gleichzeitig ist die Zypernfrage eine ambivalente Inspirationsquelle: “Irgendwann verlierst du deine persönlichen Gefühle aus den Augen”, bemerkt die junge Frau matt, “du wirst müde, weil sich nichts verändert.”
Flaggen statt Fakten
Das kulturell blühende Famagusta vor der Teilung hat die 1989 geborene Künstlerin nie erlebt. Und die Geschichtsbücher des Nordens sparen dieses Kapitel aus. “Stattdessen haben wir nur überall die Flaggen gesehen”, erinnert sich Karagil. Erst der Kontakt mit Kunsthistoriker Yiannis Toumazis öffnete ihr die Augen. Für das, was der Stillstand in Famagusta seit 1974 alles verändert hat. Vor 66 Jahren wurde Toumazis dort geboren, er wuchs auf inmitten des Aufbruchs einer jungen Republik Zypern, kosmopolitisch und kulturell.
Famagusta als Kulturstadt von Weltrang
Kunst, Musik und Theater zogen den internationalen Jetset der sechziger Jahre an, Brigitte Bardot und Elizabeth Taylor residierten in luxuriösen Hotels in Famagustas Stadtteil Varosia, das als die französische Riviera Zyperns gehandelt wurde. Weißer Sandstrand, türkisblaues Wasser. Diese fast magische Farbe hat das Wasser noch heute. Und auch die Hotels stehen noch an derselben Stelle. Sonst erinnert in Varosia nichts mehr an die frühere Kulturhochburg. Denn das frühere Luxus-Ressort ist heute das abgeriegelte Sperrgebiet.
Von der Hochburg zur Geisterstadt
Damit werden die Skelette der verfallenden Grand Hotels zum Mahnmal des Stillstandes, der für Famagusta aber alles verändert hat. Ein leerer Landstrich voller Bedeutung, nicht nur für Yiannis Toumazis. Denn direkt hinter dem Sperrzaun liegt noch immer das Haus, das er als Jugendlicher überstürzt zurücklassen musste. Für ein Jahr lebte die Familie in einem Zeltlager, in der Hoffnung auf Rückkehr. Doch bis dahin sollten Jahrzehnte vergehen. In der Zwischenzeit studiert Toumazis in den Niederlanden, dann in Frankreich. Wird Kunsthistoriker, inszeniert Theaterstücke, organisiert Ausstellungen, entwirft Museen, schreibt Bücher und gewinnt Preise. Heute leitet der 66-Jährige das Nicosia Municipal Arts Center (NiMAC) und lebt wieder auf der Insel, auf der er geboren wurde. Und doch ist heute alles anders: “Die Besetzung Zyperns ist eine Herausforderung für unsere Identität, metaphorisch und wortwörtlich.” Das Schicksal des abgeriegelten Famagusta, seiner zurückgelassenen Heimat, es hat Toumazis in all den Jahren nicht losgelassen. Ins Sperrgebiet zurück darf niemand, auch heute nicht. Fotos sind verboten, die Wachposten in den Ruinen tragen Waffen. “Ich möchte nicht als Flüchtling sterben”, sagt Toumazis.
Kulturpolitik als Aktivismus
Diese Identität sei Antrieb für sein kulturpolitisches Engagement. Erst kürzlich verhandelte Toumazis erfolgreich mit der Administration der TRNC, dass griechische Kunstschätze aus Famagusta nach Nikosia kommen. Der Kunsthistoriker und Kurator organisiert gemeinschaftliche Projekte, veranstaltet Ausstellungen sowohl im Süden als auch im Norden. Er beschafft Fördergelder, Räume und Kontakte, mit dem Ziel, dass Kunst zur Plattform für Verständigung und als Medium für Sozialkritik genutzt wird. “Die Jungen beschäftigten sich nicht mehr mit der politischen Realität”, kritisiert er.
Moderne Kunst jenseits der Historie
Das bestätigt Kunsthistorikerin Monika Asimenou: “Denn es ist alles gesagt.” Das Loslassen der Vergangenheit sei es, was die zeitgenössische Kunstszene aus Sicht der 33-Jährigen so dynamisch mache. Kulturhistorisch habe das europäische Zugehörigkeitsgefühl Zyperns schon immer vor eine Herausforderung gestellt: Der geographischen Verortung hin zum Osten stand seit der Antike eine kulturellen Orientierung in Richtung Westen gegenüber. Asimenou hat untersucht, wie sich im Licht der Teilung seit 1974 verschiedene Generationen von Künstlern herausgebildet haben. Die junge Künstlergeneration verarbeite zwar die Konsequenzen der Teilung in ihren Werken, nicht aber das Trauma.
Zyperns Künstler: Sarkastisch bis surreal
Die zeitgenössische Kunst Zyperns zeichne sich zum Beispiel dadurch aus, ganz bewusst mit dem geschmacklichen Mainstream zu spielen. Junge Künstler arbeiteten häufig mit Kitsch oder Sarkasmus als Stilmittel, so Asimenou. Wie das Werk von Nurtane Karagil, die vermeintlich harmlosen Buntstiftzeichnungen voller politischer Schärfe. Statt der traumatischen Vergangenheit sind es die Widersprüche der zypriotischen Gegenwart, die sich die junge Frau zunutze macht. Ihr Label als türkisch-zypriotische Künstlerin setzt sie bewusst ein: “Deshalb interessiert die Menschen, was ich zu sagen habe.” Inmitten des Stillstands von Famagusta hat Karagil einen Weg gefunden, das Zurückgelassene auch loszulassen: Mit der Kraft aus einer ehrlichen, kritischen Identität, die sie mit ihrer Kunst ausdrückt.