
WIRTSCHAFTSDIALOG
Die Sparpolitik spaltet Europa
Sind die Sparauflagen der richtige Weg aus der europäischen Staatsschuldenkrise? Kaum eine Frage vermag derart Bürger, Politiker und Wissenschaftler in der EU voneinander zu trennen. Zwei Fronten – doch es gäbe einen Weg der Annäherung.
Von Jana Hauschild
Gleich einem Meteoriten krachte die Finanzkrise in die Europäische Union. Sie hinterließ einen Krater, der noch immer im Boden klafft. Der Finanzkollaps in den USA erreichte 2009 auch den europäischen Staatenbund. Griechenland vermeldete damals ein Schuldenhoch, wie es zuvor noch keines in der EU gegeben hat. Spanien, Irland, Zypern und Portugal riss es ebenfalls mit – nahe an den Staatsbankrott. Die Europäische Kommission schloss sich mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammen, zur sogenannten Troika. Sie boten den Krisenländern Kredite an, um die Schulden zu begleichen und handlungsfähig zu bleiben. Im Gegenzug verlangten sie Reformen und Sparmaßnahmen, um zu sichern, dass es Fortschritte und vor allem Aufschwung in den Staaten gibt. Höhere Steuern; Privatisierung von Flughäfen, Gas- oder Wasserversorgung; gekürzte Gehälter in öffentlichen Ämtern; gestrichene Renten: Jede Regierung setzte die Auflagen anders um.
Wer sieben Jahre später versucht, eine Antwort zu finden auf die Frage: „Waren die Einschnitte der richtige Weg?“, wird feststellen: Die Frage entzweit die Gemüter in der Europäischen Union. Für die einen hat sich die Lage der Menschen und der Wirtschaft durch die Rettungsversuche verschlimmert. Die anderen preisen die Sparpolitik als alternativlos und betonen deren Erfolge. Je nach Blickwinkel fällt das Fazit gänzlich anders aus. Doch beide Seiten haben gute Argumente.
Was die Befürworter der Sparpolitik sagen
Ohne Sparmaßnahmen ist die Finanzkrise nicht zu meistern, meint EU-Kommissionssprecher Margaritis Schinas. „Die Realität hat uns leider gelehrt, dass es keinen einfachen Weg aus dieser Krise heraus gibt“, sagt der Grieche. Gerade für sein Heimatland sei das ein sehr schmerzhafter Prozess. Und doch: „Die anderen Länder haben eben diesen auch schon erfolgreich durchlaufen.“
Tatsächlich: Die Wirtschaft in den krisengeschüttelten Ländern erholt sich aktuellen Wirtschaftsdaten zufolge sichtbar. Irland hat demnach die Krise vollends hinter sich gelassen, seine Märkte florieren. Neue Steuermodelle und Einsparungen gelten als Motor dafür. Spanien verzeichnete 2015 eine der höchsten Wachstumsraten im Euro-Raum, ebenso Portugal, meldet etwa die deutsche Bundesregierung. Die Prognosen für Zyperns Ökonomie sind auch wieder positiv, das durchschnittliche Jahreseinkommen der Inselbürger bereits wieder gestiegen. Selbst Griechenland, wo das Wachstum derzeit noch schwächelt, kann anfallende Staatskosten wieder mit eigenen Geldern decken, wie es aus Kreisen der Europäischen Zentralbank heißt.
Auch die Bürger sind zuversichtlich. Das Eurobarometer vermeldet: Seit Beginn der Krise 2009 denken nun erstmals wieder mehr Menschen, dass sich die wirtschaftliche Situation der EU verbessert, als dass sie sich zum Schlechten wenden wird. Zugleich fühlen sie sich der EU noch immer verbunden – auch die Krisenländer. Die Mehrheit der EU-Bürger wünscht sich einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge weiterhin eine gemeinsame Wirtschaft, möchte Teil der Staatengemeinschaft bleiben und weiterhin mit dem Euro bezahlen. Vor allem die krisengeplagten Staaten im Süden äußerten diese Haltung, allen voran Spanien. Sieben von zehn Spaniern möchten demnach den Euro nicht missen, fast 80 Prozent von ihnen noch mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sehr interessant, befinden die Studienautoren, haben doch gerade Spanien und seine südlichen Gefährten unter der Krise in der EU gelitten.
Das Fazit der Spar-Befürworter: Die Einschnitte waren hart, aber genau das richtige Mittel, um die Krisenländer zu retten.
Was die Gegner der Sparpolitik sagen
Und dann gibt es genau die andere Seite. Die Menschen, die anklagen und sich nichts sehnlicher wünschen als ein Ende all der Kürzungen. Bürger, die die Folgen der drastischen Sparpolitik hautnah spüren, Tag für Tag. Die Steuern steigen, Lebensmittel werden teurer, ihre Altersvorsorge geht verloren, Arbeitslosigkeit greift um sich. In Andalusien oder Westmakedonien etwa steht fast jeder dritte Einwohner ohne Job da, zeigen Daten des statistischen Büros der Europäischen Union, Eurostat. Vor allem junge Menschen fassen derzeit kaum Fuß auf dem Arbeitsmarkt in den Krisenländern. Fast 80 Prozent der 15- bis 24-jährigen Einwohner der spanischen Stadt Ceuta sind ohne Arbeit.
In den südlichen Euro-Ländern fühlen sich inzwischen vier von zehn Bürgern finanziell immens verunsichert. Sie können unerwartete Kosten, etwa durch Krankheit oder auch defekte Haushaltsgeräte, nicht mehr decken. Das ergab eine Eurostat-Analyse im Jahr 2015. Sie offenbarte auch: Die Lebensqualität der Menschen in den südlichen Unionsländern rangiert am unteren Ende der Gemeinschaft.
In allen Krisenländern wehrten sich die Menschen immer wieder lautstark gegen die Sparmaßnahmen. Von Irland bis Zypern gingen Studenten, Arbeiter, Angestellte aus öffentlichen Ämtern und Rentner auf die Straße, um gegen die drastischen Einschnitte zu protestieren – zu Tausenden, wochenlang. Eine deutliche Nachricht sandten die Bürger auch mit den Wahlergebnissen in den vergangenen Monaten. Die Regierungen in Zypern, Portugal, Griechenland und Spanien, die die Sparpolitik umsetzten, wurden abgewählt oder erhielten nur noch einen Bruchteil der Stimmen aus vorherigen Wahlgängen.

Wochenlang demonstrierten Bürger in Griechenland gegen die Sparpolitik, wie hier beim Generalstreik in Athen im Oktober 2012.
Doch nicht nur die Bürger rufen „Stopp“. Auch der Europäische Gewerkschaftsbund EGB mit rund 60 Millionen Mitgliedern fordert ein Ende der Sparmaßnahmen. Diese hätten zu Wut und einer großen Unzufriedenheit geführt, die ganz Europa überzieht. „Die Sparpolitik führte zu Jobverlusten, zu prekären Arbeitsbedingungen, Gehaltskürzungen sowie rigorosen Einsparungen im öffentlichen Dienst und zum Wegfall von sozialem Schutz der Bürger“, mahnen die Gewerkschafter. Das habe sogar in Gesellschaftskreisen zu EU-Verdrossenheit geführt, in denen sonst mit Unterstützung für das europäische Projekt zu rechnen gewesen sei.
Auch unter Finanzexperten und Politikern gibt es Zweifler. „Ich denke, die Sparauflagen haben der Wirtschaft mehr geschadet, als die Troika erwartet hat. Das gilt für Irland, genauso wie für andere Länder, vor allem aber Griechenland“, sagte etwa der Ökonom Tom McDonnell vom Nevin Economic Research Institute gegenüber der irischen Zeitung Independent. Selbst der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel sieht die Sparpolitik mittlerweile kritisch, warb im Sommer für mehr Investitionen und Jobaufbau in den Krisenregionen.
Der Wirtschaftsdozent Aidan Regan vom University College Dublin erklärt in einem Blog sogar, dass Irlands Genesung überhaupt nichts mit dem Sparmaßnahmen zu tun habe – sondern mit seinem florierenden Export in die USA. Wissenschaftler vom Center for Economic and Policy Research in Washington meinen, dass auch Spaniens Wirtschaft nur Aufwind erhält, weil das Staatsportmonee zuletzt doch deutlich lockerer saß. Sind die Sparmaßnahmen also nicht nur eine immense Belastung, sondern auch nutzlos? Daran scheiden sich die Geister.
Eines ist jedoch unbestritten: Die Kritik, die Proteste und der Unmut hinterlassen Spuren – am Image der EU. Der Staatenbund ist aktuell unter seinen Bürgern so unpopulär wie noch nie zuvor. Erstmals seit Beginn der Eurobarometer-Umfragen in den 1980er Jahren schenkten im Jahr 2013 weniger als ein Drittel aller Befragten der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission ihr Vertrauen. Vor allem den Südeuropäern widerstrebt der Kurs des europäischen Bündnisses. Rund 80 Prozent von ihnen finden, dass die politischen Maßnahmen der Union derzeit in die falsche Richtung gehen, zeigte 2015 die Studie der Bertelsmann-Stiftung. Feindseligkeit macht sich breit, Medien berichten verächtlich über andere Staaten, Bürger unterschiedlicher EU-Länder schimpfen auf einander. Nord gegen Süd, Deutsche gegen Griechen, Italiener gegen Deutsche. Viele gegen Brüssel.
Das Fazit der Spar-Gegner: Die Einsparungen haben die Bürger in existenzielle Krisen gestürzt und die Stimmung in der EU vergiftet.
Lassen sich die beiden Seiten versöhnen?
Zwei Perspektiven, zwei Fronten. Dabei gäbe es einen Weg, der die beiden Seiten zwar nicht unbedingt versöhnen, aber einander annähern könnte – mehr Gespräche: „Es mangelt an der Kommunikation. Die Politiker sprechen zu wenig mit den Menschen“, sagt Theodoros Kallianos, ehemaliger Mitarbeiter der Europäischen Kommission, Wirtschaftswissenschaftler und, wie er selbst sagt, Europäer. Die Regierungen müssten den Menschen besser erklären, warum sie an Gehältern sparen, woher die Krise rührt und dass frühere Regierungen einfach zu viel Geld ausgegeben hätten. „Sie müssen einem Rentner verständlich machen, dass die 1800 Euro Pension, die er bislang erhalten hat, damals einfach viel zu hoch angesetzt wurden und deshalb nun auf ein Normalniveau gekürzt werden müssen. Und dass es nach ein paar Jahren wieder bergauf gehen wird und auch die Rente wieder steigen könnte“, sagt Kallianos. Das sorge für mehr Verständnis und könne Protesten und Verdruss vorbeugen.
Damit das Sparen gelingt, muss also vor allem investiert werden – in Redezeit.