WIRTSCHAFTSDIALOG
Richtungswechsel
Während Griechenland in der Europäischen Union als kränkelnder Patient gilt, wollen die Griechen an der europäischen Peripherie zu neuer Stärke finden. Politiker träumen davon, Thessaloniki zur Hauptstadt des Balkan zu machen.
Von Marlene Brey
Alles ist eine Frage der Perspektive – selbst Geografie. Fragt man einen Deutschen, wo Thessaloniki liegt, die zweitgrößte Stadt Griechenlands, sagt er: im Süden Europas. Fragt man einen Griechen, antwortet er: auf dem Balkan. Wie sollten die Deutschen also auch nur erahnen, wovon die Bürger am Mittelmeer träumen: Thessaloniki soll die Hauptstadt des Balkan werden. Was bedeutet das für die Verbindung zur EU und wie Balkan ist die Stadt tatsächlich?
Die Frage nach Identität
Grigoris Zarotiadis sitzt in seinem hellen Büro in der Aristoteles Universität in Thessaloniki. Der Ökonom zeigt auf die Wand ihm gegenüber. Dort hängt die Europakarte. Darüber steht auf Englisch: „Regionen und Städte arbeiten für eine bessere Zukunft“. Manche Länder sind farbig markiert. Ganz im Zentrum liegt Deutschland. Es wirkt überproportional groß. Am unteren rechten Rand liegt das farblose Griechenland.
Landkarten sind keine Abbilder der Erdoberfläche. Sie zeigen Machtverhältnisse. Wer liegt im Zentrum und wer in der Peripherie? Wie es sich anfühlt, im Abseits zu stehen, dazu verliert Grigoris Zarotiadis kein Wort. Aber er spricht über die Neu-Orientierung Thessalonikis. In Zeiten der Krise, sagt Zarotiadis, frage man sich:
“Was ist falsch gelaufen und wo haben wir uns am Falschen orientiert.”
Dabei denkt er in erster Linie an Westeuropa. Zarotiadis ist kein Europaskeptiker. Er blickt nur auf die Landkarte. Dort sieht er seinen Staat, dessen unmittelbare Nachbarn Albanien, Bulgarien und die Türkei sind. Die Insel Zypern liegt vor der syrischen Küste. Brüssel scheint dagegen weit entfernt. Europa eher wie ein Diskursraum. Die Wirklichkeit der Landkarte erreicht die Griechen auf direktem Weg mit dem Boot. Das Land hat 600 Inseln, die es nicht kontrollieren kann, egal wie oft Horst Seehofer oder Sebastian Kurz wiederholen, dass die Grenzen dicht gemacht werden müssen. Der Unterschied zwischen Deutschland und Griechenland ist nicht nur ein wirtschaftlicher oder kultureller. Es ist ein handfester: ein geografischer.
Zwischen zwei Polen
Läuft man an der Promenade an der Ägäis entlang, sieht man, dass Thessaloniki immer ein Grenzgebiet war. Diese Identität hat sich in die Architektur der Stadt eingeschrieben: Neoklassizistische Fassaden wechseln sich ab mit Wohnblocks im Sowjetstyle. Während des Kalten Krieges war Griechenland die letzte Insel des Westens. Direkt dahinter begann der Ostblock. Als der Eiserne Vorhang fiel, war die Stadt nicht mehr isoliert von seinen unmittelbaren Nachbarn. Doch sie verpasste eine historische Chance. Thessaloniki hätte in diesem Moment die Hauptstadt des Balkan werden können. So sieht man es hier. Doch die Griechen orientierten sich weiter am Westen. Diese verpasste Chance bereuen einige gerade. Denn durch die Krise fällt der Blick erneut auf den Balkan.
Hier, im Grenzgebiet zwischen West und Ost, kündigt sich erneut etwas Großes an. Der Kalte Krieg ist vorbei. Doch wieder bauen sich zwei Pole auf. „Tag für Tag und Jahr für Jahr sieht man in Thessaloniki, dass die Gegend, in der wir leben, erneut zu einer Schnittstelle wird“, sagt Grigoris Zarotiadis. Auf der einen Seite liegen Europa und die USA, auf der anderen China und Russland. China baut die neue Seidenstraße durch Südosteuropa. Peking vergibt Kredite für den Ausbau von Brücken, Autobahnen und Kraftwerken. Das könne zu einem Problem werden oder zu einer Möglichkeit, sagt Zarotiadis. Ein Versuch, darauf zu antworten: Thessaloniki soll sich als Zentrum der Region neu erfinden.
Griechenland bildet seit Jahrhunderten die Brücke
Griechenland ist in seiner Außenpolitik der letzten Jahrzehnte der Europäischen Union gefolgt. Als Mitglied der EU bildete der Staat die Brücke zu den Beitrittskandidaten im Osten. Stand der Erweiterungsprozess still, unternahm auch Griechenland keine eigenen Anstrengungen. So wie in den letzten Jahren. Über die Beziehung zwischen der EU und dem Balkan gibt es einen Witz, den man sich in der Region erzählt. Er geht so: Optimisten glauben, die Türkei tritt der EU in dem Jahr bei, in dem Albanien die Ratspräsidentschaft inne hat. Pessimisten glauben, Albanien tritt der EU bei, wenn die Türkei den Vorsitz im Rat hat. Sprich: niemals.
„Ich denke, Griechenland sollte versuchen, seinen eigenen Weg in dieser Region zu gehen“, sagt Zarotiadis. Dann ergänzt der Ökonom vorsichtig:
„Griechenland sollte versuchen, sich stark neu zu orientieren, und realisieren, dass das Gebiet für wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit nicht so sehr im Westen liegt, sondern vielmehr auf dem Balkan sowie im Nahen und Mittleren Osten.“
Zarotiadis sagt das in aufgebrachten Zeiten. Draußen auf den Fluren der Universität hängen viele Plakate politischer Aktivisten. Davor sitzen Studenten und rauchen. Wohin es mit ihrem Land geht, wissen sie nicht. Werden sie es bald verlassen, wie so viele andere? Oder verspricht der Balkan eine neue Perspektive? Zarotiadis ist jedenfalls nicht der einzige, der dort neue Möglichkeiten sieht. „Thessaloniki, Hauptstadt des Balkan“ ist ein Slogan geworden, den Politiker gerne in den Mund nehmen. Aber wie viel steckt dahinter?
Neue Märkte
Fragt man Unternehmer nach einer Neu-Orientierung Richtung Osten, schütteln sie milde den Kopf. Isomat ist ein Gigant unter den griechischen Unternehmen und Stefanos Tziritis sein Präsident. Die Firma produziert Baustoffe. Das griechische Unternehmen hat die Krise gut überstanden. Es wächst unbeeindruckt weiter. Wie hat es das geschafft? „Mit neuen Produkten“, sagt Tziritis, „und mit neuen Märkten.“
Mit der Krise ist der heimische Markt in Griechenland zusammengebrochen. Denn die Menschen hatten kein Geld mehr, konsumierten weniger. Um die fehlende Nachfrage auf dem heimischen Markt auszugleichen, waren griechische Unternehmen gezwungen, ins Ausland auszuweichen. Isomat hat in Rumänien eine Fabrik gekauft, in Serbien gab es schon zuvor eine. Hinzu kamen Filialen in Moskau, Istanbul, Slowenien, Bulgarien. Der Balkan ist allerdings nicht die alleinige Lösung gewesen. Isomat hat auch Firmen in Deutschland, Kanada und Libyen eröffnet. Insgesamt sind es 50 Länder. Isomat ist ein Global Player.
Der Balkan gewinnt in der Krise neue Bedeutung
Es ist so, sagt Tziritis: Die erste Wahl sei noch immer, mit Deutschland, Österreich oder der Schweiz Geschäfte zu machen. Denn dort ist die Nachfrage hoch. Aber nicht alle schaffen es. Die Konkurrenz ist groß, die Standards hoch. Eine Lösung, die dann nahe liegt, ist der Balkan. Die Orientierung Richtung Balkan sei daher keine Abwendung vom Westen, sondern der Versuch, auf dem internationalen Markt seinen Platz zu finden.
Dass der Balkan nur auf Produkte aus Griechenland gewartet hätte, ist allerdings auch eine Illusion: Hier steht bereits die Konkurrenz aus China auf der Matte. Im Osten kämpft man daher nicht mit den hohen Standards von TÜV-Siegeln, sondern mit der immer etwas billigeren Konkurrenz aus Asien.
Deutsch-griechische Community als Standortvorteil
Der Bedeutungsgewinn des Balkan ist kein Bedeutungsverlust für den Westen. Das unterstützen auch die Zahlen der griechisch-deutschen Handelskammer: Die griechischen Mitglieder sind über die Jahre der Krise sogar gestiegen.
Tziritis ist nicht nur Präsident des Global Players Isomat, sondern auch Vize-Präsident dieser Handelskammer. Er steht in Abendgarderobe vor dem Weißen Turm an der Promenade am Mittelmeer. Es ist dunkel geworden am der Tag der Deutschen Einheit. Das deutsche Konsulat hat geladen. Im Königlichen Theater wird die deutsch-griechische Community Schumanns dritter Symphonie lauschen und anschließend Bier trinken. Tziritis spricht fließend Deutsch, wie viele in der Stadt in Nord-Griechenland. Es ist ein Standortfakor. Lidl sitzt in Thessaloniki, Adidas und Tengelmann sind vor der Krise hier in den griechischen Markt eingestiegen. Aus dem selben Grund:
„Wir sind die am meisten an Deutschland orientierte griechische Gemeinschaft“, sagt Tziritis.
Bisher ist diese Verbindung nach Deutschland wesentlich relevanter als der Traum eines griechischen Zentrums auf dem Balkan.
Kulturelles Kapital
“Thessaloniki, Hauptstadt des Balkan”, ist das also nur eine Phrase? Im Rathaus sitzt ein Mann, der daran glaubt, dass aus dem Slogan Wirklichkeit werden kann. Sein Name ist Spiros Pengas. Er ist verantwortlich für Tourismus und internationale Beziehungen und stellt klar: Wer in Thessaloniki über Wirtschaft spricht, redet nicht automatisch über Exportüberschüsse. Die Stadt ist reich an kulturellem Kapital. Gemeinsam mit dem Bürgermeister will Pengas genau dieses nutzen. Das bedeutet vor allem, dass die Regierung der Stadt ein neues Narrativ verpasst hat. Es ist multikulturell, geschichtsträchtig, offen – und es zieht. Die Zahl der Touristen schnellt in die Höhe, auch derjenigen vom Balkan.
“Die Öffnung der Stadt gen Osten war ein Nebenprodukt der Krise”, sagt Pengas. Zuvor war die Beziehung zum Balkan lange vernachlässigt worden. Thessaloniki sei dem Osten gegenüber hochnäsig gewesen. Nun will es zu dem Club dazugehören, den es einstmals ablehnte. Beansprucht sogar den Vorsitz. Kann das klappen? Es wird nicht einfach. In der Krise ist das Bruttoinlandsprodukt Griechenlands gesunken. Das der anderen Balkanstaaten ist gestiegen. Die Zeiten, in denen Griechenland den Nachbarn im Osten weit voraus war, sind vorbei.
Dennoch kann Pengas erste Erfolge vorweisen: Was Tourismus angeht, ist Thessaloniki in den letzten Jahren bereits ein bedeutsamer Punkt auf der Karte Südosteuropas geworden. Auch in Sachen Bildung ist die Stadt ein Zentrum. Nicht nur, weil die Aristoteles-Universität die größte Hochschule auf dem Balkan darstellt. Neben Tourismus und Bildung setzt die Stadt auf neue Infrastruktur, um die Verbindungen zu den Nachbarländern zu stärken.
Auf dem Trockenen
Im diesigen Sonnenschein liegt es da: das Tor zum Balkan. So sieht Thessaloniki seinen Hafen. Auch er soll der Stadt aus der Krise verhelfen. Doch wenn man an seiner Kante entlang läuft, fällt vor allem eines auf: die Ruhe. Über dem Meer ragen die Kräne in den Himmel. Aber sie stehen still.
Die Privatisierung griechischer Infrastruktur war eine zentrale Reformauflage der Troika. So wurde auch der Hafen von Thessaloniki privatisiert. Die Mehrheit hält nun ein Zusammenschluss von Unternehmen unter deutscher Führung. Seitdem beobachten die Bewohner der Promenade nicht mehr von ihren Balkonen aus, wie die Schiffe in langen Schlangen auf die Einfahrt warten. Der private Eigentümer hat die Abläufe beschleunigt. Doch damit der Hafen ein echter Knotenpunkt für den Balkan werden kann, muss er besser vernetzt werden. Griechenland und Bulgarien planen daher den Bau eines Schienennetzes. Es soll Thessaloniki sowie weitere zwei Häfen in Griechenland mit drei Häfen in Bulgarien verbinden soll. Das zeigt, der Blick Richtung Osten ist nicht allein ein regionales Projekt. Die Premierminister der Balkanstaaten haben ihre Zusammenarbeit in den letzten Jahren intensiviert. Auch sie wollen die Verbindungen in der Region fördern. Dafür hoffen Alexis Tsipras und seine Kollegen auf Förderung aus der EU. Sollten die Mittel ausbleiben, könnte China einspringen.
Peking hat bereits 2016 in den Hafen von Piräus in Athen investiert. Seitdem verzeichnet er das weltweit schnellste Wachstum. Geht es in diesem Tempo weiter, dauert es nicht mehr lange und der Hafen wird wichtiger als der in Hamburg. Es ist so, wie Grigoris Zarotiadis gesagt hat: In dieser Region treffen Ost und West aufeinander. Griechenland steht an einem Scheideweg.
Thessaloniki als Hauptstadt des Balkan – noch ist es eine Vision. Derzeit sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland wesentlich bedeutsamer als die zum Balkan. Aber Thessaloniki sucht nach neuen Wegen aus dem Tal.
Immer wieder heißt es in der Krise, Griechen vertrauen nicht auf den Staat. Sie vertrauen auf die Familie. Die Krise hat das Vertrauen vieler Griechen in die Beziehung zu ihrem europäischen Partner erschüttert. Wer ein starkes Bedürfnis nach Bindung hat, trennt sich nicht einfach. Er sucht schon in der Beziehung nach Alternativen. Und der Balkan ist wirklich sehr attraktiv.